Möglichkeiten und Grenzen der Datentriangulation aus praxistheoretischer Perspektive in humangeographischer Feldarbeit und Einsatz der dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 09:00–10:30
Sitzungsraum
HZ 3
Autor*innen
Stefan Applis (Universität Münster)
Kurz­be­schreib­ung
Der vorgelegte Beitrag diskutiert Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes praxeologischer Theorie und Methodik in der empirischen Raum- und Sozialforschung am Beispiel eines Forschungsprojektes in Swanetien, einer seit 2010 stark wachsenden Tourismusregion im Norden Georgiens. Bei einer strengen Anwendung praxeologischer Theorie, so die These des Beitrages, müssen einige etablierte Erhebungsmethoden verworfen werden. Als Lösungsansatz wird der Einsatz der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2003) als Erhebungsinstrument und praxeologische Heuristik vorgeschlagen.

Abstract

In humangeographischer Feldforschung werden explizite Wissensbestände in Form von Theorien an Forschungsfelder herangeführt, Daten gewonnen, analysiert, interpretiert und zu Konzepten verdichtet wieder dem Untersuchungsfeld zugeführt, um Thesen zu generieren.

Aus praxistheoretischer Perspektive ist ein solches Vorgehen problematisch, weil praxeologische Zugänge verlangen ohne Vorannahmen über ein zu untersuchendes Feld die den Praktiken inkorporierten implizit handlungsleitenden Wissensbestände zu rekonstruieren, die dieses soziale Feld hervorbringen und die sich darin vollziehenden Praktiken. Humangeographische Feldforschung bedarf jedoch ganz unvermeidbar der Datentriangulation, vor allem einer interpretierenden Integration quantitativer Daten über das Forschungsfeld und der Bearbeitung von Textdaten als Erhebungsergebnis, etwa von Interview-Transkripten, die z. B. einer routinierten Diskursanalyse zugeführt werden.

Damit kommt der Frage nach einer theoretisch stimmigen Integration expliziter und impliziter Wissensbestände zentrale Bedeutung zu. Ohne diese werden Prä-Konzepte der Forschenden theoretisch und methodisch unkontrolliert auf die Stakeholder im Feld angewandt, anstatt deren Wissensbestände als inkorporiert, d. h. als nur im Aggregatzustand der Praktiken hervortretend rekonstruktiv zu beforschen. Das Problem, dass Interviewtexte, in denen Beforschte über Praktiken sprechen, oft als Objektivierungen eben dieser Praktiken gelten, zeigt sich in zahlreichen jüngeren Beiträgen zur Tourismusforschung zu peripheren Räumen, wo sich, in Folge einer stark wachsenden globalen Tourismusindustrie, die Alltagsfelder bäuerlicher Gemeinschaften dynamisch verändern (z. B. Shen, Yang & Geng 2022; Hoang, Van Rompaey & Meyfroidt, 2022). Hier finden sich verkürzte Analysen, die den Transformationsprozessen, denen solche Gesellschaften unterworfen sind, so die übergeordnete These dieses Beitrages, kaum gerecht werden können. Der vorgeschlagene Beitrag konzentriert sich auf praxeologische Forschung zu Swanetien in Georgien (Applis 2019, 2022), einem vormals peripheren Raum, zu dem zahlreiche Publikationen vorliegen, die sich mit den Folgen der touristischen Entwicklung befassen. Die meisten Publikationen sammeln quantifizierbare Daten zu Faktoren, die für nachhaltige Agrotourismusaktivitäten generell gelten (Argutashvili & Gogochuri 2019, Cappucci & Zarrilli 2015, Engel et al. 2006, Tarragüel, Krol & van Westen 2012). Zugleich besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass es Jahre dauern werde, bis die Beteiligten ein Bewusstsein für die Entwicklungen und Veränderungen entwickeln, die sich ergeben, wenn die Zahl der Tourist*innen noch weiter ansteigt. Der Vortrag zeigt, weshalb Forschung zu solchen Transformationsprozessen unter Beteiligung lokaler Stakeholder vorzugsweise innerhalb eines praxistheoretischen Zugangs bearbeitet werden sollte. Als Lösung wird der Einsatz der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2003) als praxeologische Heuristik vorgeschlagen.