Naturbegegnung zwischen Muße und Kult: Eine Chance in der ökologischen Krise

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
SH 2.107
Autor*innen
Joachim Rathmann (Augsburg)
Kurz­be­schreib­ung
Die ökologische Krise ist auch eine geistige; spirituelle Praktiken haben das Potential, die neuzeitliche Naturentfremdung zu überbrücken.

Abstract

Die ökologische Krise ist auch eine geistige; die moderne Naturwissenschaft hat unsere Mitwelt zu einem Objekt werden lassen. Eigentliches Sein kommt damit nur dem Quantifizierbaren zu; Natur wird zu einer austauschbaren Ressource und jeder Teleologie beraubt. In der neuzeitlichen Entzweiung von Mensch und Natur liegt ein Grund für die ökologische Krise.

Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass trotz einer starken Säkularisierung, Spiritualität in dem Maß Zuspruch gewinnt, wie Religionen an Bindungskraft verlieren. Denn Menschen haben auch ein metaphysisches Grundbedürfnis, das durch eine rational zergliederte Weltsicht nicht befriedigt werden kann.

Lassen sich nun religiöse Ansätze neu auf die ökologische Krise münzen? Es soll gezeigt werden, dass zwei Denkfiguren sich hier als hilfreich erweisen könnten:

Folgt man dem Werk „Muße und Kult“ des Philosophen Josef Pieper (1904-1997), lebt eine feiernde Betrachtung der Wirklichkeit eine Übereinstimmung, ein Eingeschlossensein im Gegenüber. Dies bedeutet gleichzeitig eine Zustimmung zur Welt und Bejahung einer Sinnwirklichkeit, in dem das Gegenüber als ein Subjekt, als ein Du begegnet. Eine frappierende Analogie findet sich bei Friedrich Otto Bollnow (1903-1991) in seiner Schrift „Neue Geborgenheit“, wo eine „feierliche Gestimmtheit“ einen Weltzugang beschreibt, welcher aus dem Alltag heraushebt. Für Pieper ist es die Muße, die eine zentrale Stellung einnimmt; in Muße begegnen wir dem Gegenüber in staunender Bescheidenheit und Achtung. In Muße wird die Mitwelt gleichsam interessenlos geschätzt. Gleichzeitig ermöglicht Muße, den Zwängen des Alltags enthoben, Kreativität.

Kult ist schließlich die höchste Form von Wirklichkeitsbegegnung, die von der ständigen Wiederholung lebt. Die kultische Begegnung impliziert ein Gutheißen der Welt; die Zustimmung zur Welt ist damit die Bejahung der Welt ohne instrumentellem Interesse als Tätigkeit in Freiheit. Der Grund zur Feier ist dabei Liebe, die Feier ist eine Begegnung mit der Wirklichkeit im leiblich-sinnlichen Vollzug. Dieser erfolgt zwar im Hier-und-Jetzt verweist aber auf eine vertikale Wirklichkeitsdimension, in welcher sowohl das erfahrende Ich als auch das Gegenüber transzendiert wird.

Werden diese Denkfiguren auf den ökologischen Diskurs münzen bedeutet dies, dass eine regelmäßige Naturbegegnung ein Neuentdecken und Wertschätzen von Natur zur Folge haben kann und letztlich die „Naturwahrheit“ - für Alexander von Humboldt (1769-1859) ist dies die individuelle Naturbegegnung - die er der naturwissenschaftlich verallgemeinerten Beschreibung des „Kosmos“ gegenüberstellt, wieder gleichberechtigt einer rationalen Naturbeschreibung zur Seite gestellt wird.

Zur Überwindung der neuzeitlichen Naturentfremdung bedarf es einer Neubegegnung, welche jenseits eines rein rationalen Naturzugriffs (ökologisches Wissen), Ergänzung findet um eine ästhetische und spirituelle Naturbegegnung, die sich gleichsam als Kult und Fest jedoch regelmäßig einüben muss.