Orte als Ursprung sozialräumlicher Praktiken

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 09:00–10:30
Sitzungsraum
HZ 4
Autor*innen
Andreas Koch (Universität Salzburg)
Kurz­be­schreib­ung
Ein relationales Raumverständnis trägt zur Stärkung lokal-emanzipatorischer sozialer Praktiken bei, indem es hilft, Handlungsmacht zu dezentralisieren und soziale Beziehungen zu egalisieren. So erzielte Pluralität innerhalb wie zwischen Orten widersetzt sich damit territorialen Standardisierungen.

Abstract

Für eine geographische Analyse sozialräumlicher Tätigkeiten ist das Raumparadigma des Territoriums wenig geeignet. Es hat seine Berechtigung in der räumlichen Codierung rechtlicher Sachverhalte, versagt jedoch für die Charakterisierung von Beziehungsstrukturen, -funktionen und -prozessen. Territorial fundierte Denkmuster unterliegen aufgrund ihrer Totalität dem Problem, nach innen zu nivellieren und nach außen zu exkludieren. Sie erstrecken sich bis ins Lokale der Nachbarschaften und Gemeinschaften (Berking 2006, 67). Territorialität spielt als räumliche Voraussetzung für politische und wirtschaftliche Zentralisierungsstrategien eine wesentliche Rolle. Sie ermöglicht, Machtansprüche hierarchieaufwärts zu bündeln und standardisierte Vergleiche von Regionen zu etablieren, auf die eine auf Kapitalakkumulation fixierte Marktwirtschaft angewiesen ist.

Vor diesem Hintergrund plädiert der Beitrag für eine angemessene Berücksichtigung relationaler Raumkonzepte, dem Verständnis von Netzwerken entsprechend, um die Unzulänglichkeiten des territorialen Denkens zu mildern. Netzwerkräume betonen die Beziehungen zwischen Orten. Sie würdigen plurale, lokal-emanzipatorische Kräfte, indem sie Handlungs- und Entscheidungsspielräume dezentralisieren und so den lokalen Akteur*innen ein adäquates Maß an Autonomie zusprechen. Allerdings sind auch Netzwerkräume durch Zentralisierung und Hierarchisierung gefährdet. Widerstand dagegen bieten Ansätze des in der kritischen Stadtgeographie diskutierten Munizipalismus, der darauf abzielt, „lokale Institutionen gemeinwohlorientiert auszurichten, ein neues Verhältnis zwischen kommunalen Regierungen und sozialen Bewegungen zu etablieren […]“ (Vollmer 2022, 371) und so eine egalitäre Interdependenz zwischen Orten, Menschen, Natur und Dingen anzustreben.

Die theoretischen Ausführungen werden anhand zweier empirischer Fallstudien zur Aufrechterhaltung sozialer Daseinsvorsorge in Nordschweden näher erläutert. Während im einen Fall genossenschaftliche Organisationsformen im Tourismus und alltäglicher Güterversorgung eine Stärkung wirtschaftlicher Partizipation der lokalen Bevölkerung gewährleisten und ein Beispiel für primär innerlokale Beziehungen darstellen, tragen im anderen Fall eHealth-Dienste zur Sicherung dezentraler Gesundheitsversorgung in alternden und schrumpfenden Ortschaften bei. Hier liegt der Schwerpunkt auf lokal-regionalen Beziehungen. Anhand der von Rosanvallon (2013) proklamierten drei Kriterien für Beziehungsgleichheit – Singularität, Reziprozität und Kommunalität – wird örtliche mit sozialer Relationalität zusammengeführt.

Literatur:

Berking, Helmuth, Hrsg. 2006. Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt a.M.: Campus.

Rosanvallon, Pierre. 2013. Die Gesellschaft der Gleichen. Hamburg: Edition HIS.

Vollmer, Lisa. 2022. «Munizipalismus.» In Handbuch Kritische Stadtgeographie, hrsg. v. Bernd Belina, Matthias Naumann und Anke Strüver, 371-377. 5. Aufl. Münster: Westfälisches Dampfboot.