„Recht auf Dorf“: Weltanschauliche Hintergründe sozial-ökologischer Kämpfe in devastierten Dörfern

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
HZ 5
Autor*innen
Simone Hieber (Universität Jena)
Kurz­be­schreib­ung
Der Vortrag stellt Weltanschauungen dar, auf die in aktuellen sozial-ökologischen Kämpfen in Dörfern Bezug genommen wird. Die Theoriedestillation aus den Bewegungen heraus, soll relevante und konfligierende Themen und Konzepte für ein „Recht auf Dorf“, sowie deren Gesellschaftskritiken aufzeigen.

Abstract

Bei den Räumungskämpfen im Dorf Lützerath hielt Luisa Neubauer, als Vertreterin der Klimagerechtigkeits-Bewegung, Hans Jonas‘ „Das Prinzip Verantwortung“ (1979/2020) in die Kameras. Obwohl prominent platziert, ist interessant zu fragen, inwiefern dieses Buch eine bedeutsame Einflusslinie für ein „Recht auf Dorf“ darstellt. Das Anti-Braunkohle-Netzwerk „Ende Gelände“ beschreibt in „We shut shit down“ (2022), dass sich ihr Begriff von Klimagerechtigkeit weltanschaulich in die Tradition der Umwelt-Bewegung einreiht, bei der ökologische Fragen mit gesellschaftlichen Machtstrukturen und Diskriminierung verknüpft sind. Dass die Klimagerechtigkeits-Bewegung nicht nur in Städten auf die Straße geht, sondern auch in Dörfern aktiv ist, ist logisch und sinnvoll. Und doch ist sie nur eine Linie jener sozialer Bewegungen, die für ein „Recht auf Dorf“ kämpfen.

Andere Aktivist*innen in devastierten Dörfern berichten von weiteren weltanschaulichen und konzeptionellen Einflüssen für ihre Kämpfe um den Erhalt und die Wiederbelebung der Dörfer: unter anderem Theorien des Territoriums, Postwachstum und Suffizienz; Commons und Sharing Economy; (Neuer) Munizipalismus; Libertärer Kommunalismus; Ziviler Ungehorsam; Queer-feministische Theorien.

Der Vortrag möchte jene Theorien und Konzepte artikulieren, welche in aktuellen „Recht auf Dorf“-Bewegungen eine theoretische und praktische Rolle spielen. Während Henri Lefebvres Buch „Das Recht auf Stadt“ (1968/2019) für urbane Wohnrauminitiativen ikonisch wurde, scheinen rurale Kämpfe um Wohn- und Naturräume keinen klaren theoretischen Fokus zu haben. Vielmehr zeigt sich hier die Herausforderung der komplexen Überlagerung verschiedener Themen und Fragen: Wohnraum, Naturraum, Ressourcen, Klimagerechtigkeit, Land-Eigentum, Autonomie, Stadt-Land-Verbindungen.

Dieses Kaleidoskop an Themen prägt die Kämpfe um ein „Recht auf Dorf“. Zu fragen, welche theoretischen und konzeptionellen Einflusslinien hinter diesen sozial-ökologischen Kämpfen stehen und wie diese interpretiert und verwendet werden, kann analytisch Rückschluss auf Motivationen, Stoßrichtungen, sowie Konfliktlinien innerhalb der nur lose existierenden „Recht auf Dorf“-Bewegung geben.

Dabei sind auch jene weltanschaulichen Einflüsse zu beachten, die nicht akademisch, oder urban geprägten sind, sondern mehr „praktisch“ entstanden sind. Dass in sozial-ökologischen Kämpfen oft akademische/urbane Theorien dominieren, und auch Forschende ruraler Räume meist in dieser Tradition stehen, kann ein spezifisches Verhältnis zwischen Stadt und Dorf aufzeigen.

Interessant ist letztlich eine weltanschauliche Lagebestimmung für ein potentielles „Recht auf Dorf“ zu geben und damit die gesellschaftskritischen Charakterzüge der sozial-ökologischen Kämpfe aufzeigen.

Literatur:

Ende Gelände. 2022. We Shut Shit Down. Hamburg: Edition Nautilus

Jonas, Hans. 2020. Das Prinzip Verantwortung. Berlin: Suhrkamp

Lefebvre, Henri. 2019. Das Recht auf Stadt. Hamburg: Edition Nautilus