Schaukelprozesse, Krisenkompetenzen und andere Zumutungen: Über den Umgang mit Ungewissheit in zwei kreativen Quartieren

Vortrag
Sitzungstermin
Freitag (22. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
HZ 11
Autor*innen
Yvonne Siegmund (Hamburg)
Kurz­be­schreib­ung
Seit 2016 erforsche ich zwei Kreativquartiere in Hamburg und München, die partizipativ und prozessoffen entwickelt werden und die eine andere Zeitlichkeit verfolgen als die klassische Planung. Ihre Aushandlungen sind bewegliche Schaukelprozesse, die zwischen Routinen und Experimenten, Annäherung und Aushalten oszillieren. In beiden Quartieren erforsche ich den Umgang mit und die Produktion von Unsicherheit und Uneindeutigkeit, um zu erfahren, wie dies durch Persönlichkeiten und Beziehungen, Kompetenzen und Instrumente verändert wird.

Abstract

Multiple, miteinander verflochtene Krisen demonstrieren aktuell, wie komplex globale Abhängigkeiten sind und wie schnell Gewissheiten zerstört werden. Vermutlich wird die Welt sich künftig schneller und umfassender „verwandeln“ (Beck 2017) oder „mutieren“ (Latour 2021:119) und noch unübersichtlicher werden. Dabei streben moderne Gesellschaften eigentlich nach Ordnung, Berechenbarkeit und Ausdifferenzierung. Ironischerweise produzieren sie damit neben neuen Unsicherheiten auch Uneindeutigkeiten. Je sicher gewusst, ein- und ausgeschlossen, das Irrationale und Ambivalente eliminiert wird, desto größer ist das Nichtwissen und damit die Unsicherheit. (vgl. Gamm 1997:35)

In orientierungslosen Zeiten helfen Krisenkompetenzen. So auch in der Stadtplanung, die zunehmend „bedingt planbar“ (Wüstenrot Stiftung 2020) agiert, jedoch meist mit dem Gebauten Stabilität herstellen will. Das Wissen über Unbestimmtheit und der konstruktive Umgang verlange aber nach einem Fokuswechsel „von Objekten hin zu Handlungen zwischen Menschen und Dingen“. (Dell 2020:88)

In zwei geplanten und gleichermaßen gewachsenen Kreativquartieren in München und Hamburg wird seit Jahren der Umgang mit Ungewissheit erprobt. In Transformationsprozessen wurden alte Kasernen- bzw. Güterbahnhofsstrukturen kreativ(-wirtschaftlich) und soziokulturell umprogrammiert. Von Planenden und Kreativen werden sie auf unbestimmte Zeit weiterentwickelt. Beide Quartiere sind keine Best Practices im Sinne reiner Erfolgsgeschichten. Die Schaukelprozesse sind beispielhaft, weil sie von persönlichen und institutionellen raumzeitlichen Logiken und Kommunikations- und Koordinierungsinstrumenten abhängen. Die durchaus emotional gefärbten Aushandlungen oszillieren zwischen Routinen und Experimenten, Annäherung und Aushalten.

Seit 2016 erforsche ich beide Quartiere. In meiner Dissertation dechiffrierte ich mit Hilfe der Zeitlichkeit ihre prozessualen und sozialräumlichen Abhängigkeiten. Seither fokussiere ich dort den Umgang mit und die Produktion von Unsicherheit und Uneindeutigkeit. Ich will erfahren, wie dies durch Persönlichkeiten und Beziehungen, Kompetenzen und Instrumente verändert wird, und stelle diesen Ansatz in der Session zur Diskussion.

Beck, Ulrich. 2017. Die Metamorphose der Welt. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Dell, Christopher. 2020. „Stadt als Improvisationsmaschine im Zeitalter der urbanisierten Gesellschaft“. S. 88–98 in Bedingt Planbar Städtebau und Stadtentwicklung in Deutschland und Europa. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung (Hg.).

Gamm, Gerhard. 1997. „Die Flucht aus der Kategorie Die Unbestimmtheit der modernen Welt im Spiegel philosophischer Diskurse“. S. 35–63 in Ambivalenz Studien zum kulturtheoretischen und empirischen Gehalt einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten. Opladen: Leske + Budrich.

Latour, Bruno. 2021. After Lockdown a metamorphosis. Oxford: Polity Press (Hg.).

Wüstenrot Stiftung (Hg.). 2020. Bedingt Planbar Städtebau und Stadtentwicklung in Deutschland und Europa.