Staatliche Fragmentierung und diskursive Hegemonie: Konzeptionelle Überlegungen im Anschluss an den Syrien-Konflikt

Vortrag
Sitzungstermin
Freitag (22. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
SH 2.107
Autor*innen
Benjamin Heidrich (FAU Erlangen-Nürnberg)
Kurz­be­schreib­ung
Thema sind theoretische Implikationen des Syrien-Konflikts für die Fragmentierungsforschung. Staatliche Fragmentierung wird als Deutungskampf gefasst, wo fiktive Politys (nicht-/staatliche Visionen „idealer“ Zukunftsordnungen) den Staat schwächen und alternative Institutionalisierungen provozieren.

Abstract

Seit Beginn der Fragmentierung des syrischen Staates im Jahr 2011 verbreiten staatliche wie nicht-staatliche Konfliktparteien Visionen für eine „ideale“ Ordnung der Zukunft. Diese implizieren entweder die Restaurierung, Reformierung oder, wie im Fall des Kalifats-Konzeptes des „Islamischen Staates“, die völlige Überwindung Syriens. Die Fragmentierungsforschung behandelte den damit einhergehenden Deutungskampf bislang eher nebensächlich und steht damit exemplarisch für einen Forschungsstrang, welcher die Diskursivität staatlicher Erosionsprozesse entweder gänzlich vernachlässigt oder eher oberflächlich als Legitimitätskonflikte analysiert.

Aus postfundamentalistischer Perspektive handelt es sich hierbei um ein schwerwiegendes Desiderat: Im Anschluss an die Essex School of Discourse Analysis markiert der angesprochene Deutungskampf um die „ideale“ Ordnung der Zukunft den Kern (und keinen Nebenaspekt) des syrischen Fragmentierungsprozesses. Vor dem Hintergrund dieses Ansatzes muss der Staat als Ordnung verstanden werden, die auf einer hegemonialen Ordnungsvision beruht, die permanent und immer auch affektiv geleitet von einer Bevölkerungsmehrheit „realisiert“ wird – sei es überwiegend konsensbasiert oder unter erhöhter Anwendung von Zwang. Da der Staat aufgrund der untilgbaren Präsenz von Alternativen jedoch niemals vollständig institutionalisiert werden kann, bleibt er stets fragmentiert. Weitet sich die Fragmentierung aus, nimmt dies den Ausgangspunkt in einer zunehmenden Infragestellung der bislang hegemonialen Ordnungsvision, was das Auftauchen alternativer Visionen und daran anknüpfender Institutionalisierungen zur Folge hat.

Dieser neue Ansatz mit Blick auf staatliche Fragmentierung weist übergreifende theoretische Implikationen auf. Dies liegt zum einen an seiner Fundierung in der Essex School, die für sich in Anspruch nimmt, einen allgemeinen Erklärungsrahmen für das Soziale schlechthin bereitzustellen. Dementsprechend markiert er ein neues Angebot, staatliche Fragmentierungsprozesse – und zwar ausdrücklich auch weniger offensichtlich und flächendeckend ablaufende als in „fragilen Staaten“ – als sich permanent reinstitutionalisierende Deutungskämpfe um die „ideale“ Zukunft zu lesen. Zum anderen lassen sich die verschiedenen Ordnungsentwürfe in Syrien zu einem Konzept zusammenfassen, welches die in der Politischen Geographie problematisierte Über-Fokussierung auf die Erforschung territorialstaatlicher Organisationsformen produktiv adressiert. Der Umstand, dass diese Entwürfe stets hierarchische, also zwischen Regierenden und Regierten unterscheidende Ordnungen zeichnen, diese jedoch nicht immer territorialstaatlich fassen, lässt es zu, sie unter dem Begriff „fiktive Politys“ zu subsumieren. Exakt zu diesem Zweck wurde der Polity-Begriff in den 1990er Jahren von Yale H. Ferguson and Richard W. Mansbach neu theoretisiert und in die Internationalen Beziehungen eingeführt.