Vom Verschwinden des ‚Politischen‘: Skalare Behauptungen lokalistischer Gemeinschaften

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
HZ 12
Autor*innen
Valentin Domann (Humboldt-Universität zu Berlin)
Henning Nuissl (Humboldt-Universität zu Berlin)
Antonie Schmiz (FU Berlin)
Özge Yaka (FU Berlin)
Kurz­be­schreib­ung
Ungewöhnliche Bündnisse, die sich zusehends in lokalen Konfliktfeldern herausbilden, verweisen auf einen amorphen Neuen Lokalismus. Dessen Praktiken und Diskurse vergewissern verräumlichtes Dasein und Bewusstsein nach innen und behaupten die scheinbar unpolitischen Interessen lokaler Gemeinschaften gegenüber Anderen.

Abstract

Einer verbreiteten zeitdiagnostischen Feststellung zufolge erleben wir gegenwärtig eine rasante Vertiefung gesellschaftlicher Konfliktlinien und eine Eskalation der entsprechenden Debatten. Dass neue politische Kräfte am rechten politischen Rand erfolgreich Grenzen des Sagbaren verschoben haben, trägt hierzu maßgeblich bei. Ein genauerer Blick auf lokale Konflikte offenbart jedoch ein differenzierteres Bild: Während sich in kommunalpolitischen Debatten zu gesellschaftlich umstrittenen Themen einerseits viele Beispiele für erbittert ausgefochtenen Streit finden, zeigt sich auf der anderen Seite oft eine überraschende Einigkeit zwischen den beteiligten Akteuren. Politische Akteure unterschiedlicher gesellschaftlicher Lager schließen ‚vor Ort‘ teils ungewöhnliche – horizontale – Bündnisse, um den Interessen ihrer Kommune gegenüber den übergeordneten politisch-administrativen Ebenen Geltung zu verschaffen. Anlass hierfür ist häufig das Ringen um staatliche Zuwendungen und Ressourcen oder die Verteilung von Lasten – nicht selten auch in Konkurrenz zu anderen Kommunen. Lokalpolitik wird dementsprechend nicht als Arena der Aushandlung konfligierender Interessen betrachtet, sondern in erster Linie als Ort der Vergewisserung ortsgebundenen Daseins und Bewusstseins. Ein inhaltsleerer und amorpher Neuer Lokalismus (vgl. Wills 2016) tritt an die Stelle von eingeübten politischen Positionen und Ideologien.

Der lokalpolitische Schulterschluss gelingt dabei – so unsere Beobachtung – indem Interessendivergenzen in einer bestimmten Weise gerahmt und teilweise umgedeutet werden: Zum einen werden sie in charakteristischen ‚scale frames‘, interpretiert, die die Ursachen für lokale Konflikte auf übergeordneten Ebenen verorten; zum anderen erfolgt eine zumindest latente Negation des politischen Charakters lokaler Konflikte, indem die Kommune als Gemeinschaft imaginiert wird, in der zwar unterschiedliche Sichtweisen existieren, in der die Bruchlinien zwischen gesellschaftlichen (Interessen‑) Gruppen aufgehoben sind. Dieses Revival der Gemeinschaft verstehen wir als einen Ausdruck postdemokratischer Konsenspolitik, die sich durch neue skalare Verhältnisse neoliberaler Governance auf der kommunalen Ebene besonders deutlich präsentiert (Swyngedouw 2019).

In unserem Beitrag möchten wir die Beobachtung eines spezifisch lokalistischen Modus der Bearbeitung und Befriedung lokaler Konflikte vorstellen und anhand zweier empirischer Fallstudien illustrieren. Die beiden betrachteten verkehrsbezogenen Konflikte aus einem urbanen und einem ländlichen Setting zeigen, dass Lokalismus per se weder progressiv noch regressiv erscheint, der Formierung lokaler Gemeinschaften als unterschiedslose Interessensgruppen jedoch ein autoritärer Charakter innewohnt.

Swyngedouw, Erik. 2019. The Perverse Lure of Autocratic Postdemocracy. South Atlantic Quarterly 118, Nr. 2: 267–286.

Wills, Jane. 2016. Locating localism: statecraft, citizenship and democracy. Bristol Chicago: Policy Press.