Wenn staatliche Wohnungsprogramme unbezahlbar sind: Wohnstrategien von Verdrängten in Rabat-Salé, Marokko

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
HZ 3
Autor*innen
Raffael Beier (TU Dortmund)
Kurz­be­schreib­ung
Wohnstrategien von Verdrängten sind bislang auch aufgrund von methodischen Schwierigkeiten kaum in den Blick genommen worden. Dieser Beitrag analysiert, wohin umgesiedelte Bewohner*innen informeller Siedlungen ziehen, die sich die staatlich-geförderten Wohnalternativen nicht leisten können.
Schlag­wörter
Verdrängung, Umsiedlung, sozialer Wohnungsbau, Wohnungsknappheit, informelle Siedlungen

Abstract

Die Wohnerfahrungen und -strategien von Verdrängten sind bislang – mit wenigen Ausnahmen (u.a. Beier 2023, Betancourt 2018, Watt 2021) – auch aufgrund von methodischen Zugangsschwierigkeiten kaum in den Blick der Stadt- und Sozialgeographie genommen worden (vgl. Beran/Nuissl 2019; Elliott-Cooper et al. 2020). Eine ganzheitliche Analyse von subjektiven Praktiken des un-homing und re-homing ist jedoch von entscheidender Bedeutung um ein fundiertes Verständnis der Bedeutung und Auswirkungen von Wohnungsknappheit und Verdrängung zu entwickeln und darüber hinaus individuelle und bislang kaum erforschte Anpassungsstrategien an zunehmenden Verdrängungsdruck in wachsenden Städten in den Blick zu nehmen. Diese Forschungslücke widmet sich dieser Beitrag und nimmt dabei Bezug auf das Wohnungs- und Umsiedlungsprogramm Villes Sans Bidonvilles (VSB, „Städte ohne Slums“) in Marokkos Hauptstadtregion Rabat-Salé.

Im Rahmen dieses Programms werden Bewohner*innen informeller Siedlungen in neue Stadtviertel am Stadtrand umgesiedelt. Der Staat betrachtet VSB als ein soziales Wohnungsprogramm, dass Zugang zu angemessenem Wohnraum gewährleisten und so die soziale Integration marginalisierter Stadtbewohner*innen fördern soll. Zumeist erhalten zwei Haushalte zusammen ein subventioniertes Grundstück, auf dem sie ein mehrgeschossiges Mehrfamilienhaus bauen können. Viele Haushalte können sich den Bau des Hauses nicht leisten beziehungsweise wollen nicht in die Umsiedlungsstadt ziehen. Da sie dennoch aus ihren Häusern in den informellen Siedlungen ausziehen müssen, verkaufen sie ihre Grundstücke in der Umsiedlungsstadt, um woanders ein neues Zuhause finden.

Dieser Beitrag basiert auf eigenen, narrativ-biographischen Interviews mit dreißig solcher Haushalte und geht den Fragen nach, wohin sie warum ziehen und welche Wohnstrategien sie dabei verfolgen, beziehungsweise welche Möglichkeiten sie haben, anderweitig Zugang zu bezahlbarem und angemessenem Wohnraum zu erhalten. Die Interviews zeigen die existenzielle und generationsübergreifende Bedeutung von sicherem bezahlbarem Wohnraum für strukturell benachteiligte Stadtbewohner*innen auf, die sich abseits institutioneller sozialer Sicherungssysteme mit andauerndem und wiederkehrendem Verdrängungsdruck konfrontiert sehen. Dabei analysiert der Beitrag subjektive und langzeitliche Wohnerfahrungen, -strategien, und -zwänge, die entstehen, wenn Wohnkosten steigen und gleichzeitig die Zahl erschwinglicher Wohnalternativen (z.B. informelle Siedlungen) abnimmt.