Wertschöpfung oder Wertextraktion: Legitimationskämpfe um die Finanzialisierung ambulanter Gesundheitsversorgung
Abstract
Mit der Übernahme von Arztpraxen und deren Umwandlung zu finanziellen Vermögenswerten durch Private-Equity-Gesellschaften gerät ein essentieller Bereich sozialer Reproduktion in Deutschland zunehmend unter neue Formen ökonomischer Inwertsetzung. Der Aufbau ambulanter Gesundheitsketten zum Zweck der Renditeerzielung durch Weiterverkauf hat eine gesundheitspolitische Kontroverse um die Beteiligung von Finanzinvestoren an der Gesundheitsversorgung und damit einhergehende Auswirkungen für Patient*innen, Ärzt*innen und Beitragszahler*innen der Krankenkassen ausgelöst. Während dieser Prozess mit Bezug auf ein neoklassisches Wirtschaftsverständnis als Form der Wertschöpfung legitimiert wird, wird er mit Rückgriff auf heterodoxe Ökonomiekonzeptionen als Ursache für Kommerzialisierung, Spekulation und Wertextraktion im Gesundheitswesen zurückgewiesen.
Aus der Perspektive von Ökonomisierung im Anschluss an Çalışkan und Callon fragt der Beitrag basierend auf eigener qualitativer Forschung in Gesundheitspolitik und -wirtschaft nach der diskursiven Herstellung von Legitimation für und gegen die Finanzialisierung von Gesundheitsversorgung. Er argumentiert erstens, dass die Durchsetzung spezifischer ökonomischer Denkschulen im Legitimationsstreit materielle Konsequenzen für die künftige Organisation dieses Bereichs der sozialen Reproduktion hat. Zweitens wird mit dem wirtschaftsgeographischen Konzept der Dissoziation gezeigt, wie problematische Folgen der Finanzialisierung sozialer Reproduktion im Bereich von Arztpraxen durch diskursive Strategien und räumliche Konfigurationen aus dem Blick geraten und unsichtbar gemacht werden. Somit unterstreicht der Beitrag die Relevanz heterodoxer Perspektiven der Wirtschaftsgeographie für ein kritisches Verständnis von Restrukturierungsprozessen in sensiblen Bereichen der sozialen Reproduktion.