Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel: Die Regierung von Geflüchteten an der Schwelle des Sterben-Lassens auf der griechischen Insel Lesvos
Abstract
Seit geraumer Zeit ranken sich Diskussionen der Grenzregimeforschung um die biopolitische Funktion von Geflüchtetenlagern. Einerseits werden sie als Institutionen des Humanitarismus, also der Versorgung von Asylsuchenden bei ihrer gleichzeitigen Kontrolle, konzeptualisiert. Andererseits werden diese Lager als Institutionen der Nekropolitik aufgefasst, die staatsrassistischen Logiken folgen und Asylsuchende sterben lassen oder aktiv töten. Eigene ethnographische Forschungen von 2018 bis 2020 auf Lesvos zeigen jedoch, dass die Biopolitiken zur Regulierung der Fluchtmigration nicht an einem dieser Pole angesiedelt sein müssen. Vielmehr ließ sich dort lange Zeit eine Regierungsweise beobachten, die viele Asylsuchende an der Schwelle des Sterbenlassens platzierte. Basierend auf meiner Forschung gehe ich aus einer gouvernementalitätstheoretischen Perspektive der Frage nach, wie die Stabilisierung dieser äußerst fragilen Schwelle bewerkstelligt wurde. Dafür zeichnen sich unterschiedliche Technologien verantwortlich, die sich aus heterogenen Machttechniken zusammensetzen und produktiv aufeinander bezogen werden. Dies sind beispielsweise differenzielle Sicherheitstechnologien, Technologien der gezielten Unterversorgung oder der dauerhaften Immobilisierung der Asylsuchenden auf der Insel. Die Stabilisierung der Technologien und ihr Zusammenspiel wiederum resultiert aus den Koordinierungsbestrebungen von Instanzen auf unterschiedliche Skalenebenen, die sich gegenseitig beeinflussen und strategisch für ihre Zwecke einzubinden versuchen. Diese migrationsbezogenen Biopolitiken änderten sich durch die konservative griechische Regierung ab 2020, die sich jetzt nur noch nachrangig durch eine Stabilisierung dieser Schwelle, sondern vor allem durch ein aktives Sterbenlassen in Form von Pushbacks auszeichnen. Der Vortrag zeigt, dass eine von den lokalen Praktiken ausgehende Analyse von Regierungsweisen bestehende Konzepte erweitert, indem sie ein differenzierteres Bild von Machtverhältnissen zeichnet.