Zur geopolitischen Dimension EUropäischer offener Standards: Ein historischer Vergleich

Vortrag
Sitzungstermin
Freitag (22. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
HZ 3
Autor*innen
Max Münßinger (FAU Erlangen-Nürnberg)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag reflektiert die postulierte Neuheit der Geopolitisierung digitaler Infrastrukturen. Dafür zieht er den Vergleich zweier von EUropa ausgehender Vorhaben zur Implementierung offener (digitaler) Standards heran: Die Standardisierunsversuche des Open Systems Movement aus den 1970/80er Jahren und das aktuelle Standardisierungsprojekt Gaia-X.

Abstract

Der Beitrag reflektiert die postulierte Neuheit der Geopolitisierung digitaler Infrastrukturen. Dafür zieht er den Vergleich zweier von EUropa ausgehender Vorhaben zur Implementierung offener (digitaler) Standards heran: Die Standardisierunsversuche des Open Systems Movement aus den 1970/80er Jahren und das aktuelle Standardisierungsprojekt Gaia-X.

Mit dem Begriff „Open Systems Movement“ (OSM) lässt sich die lose Kooperation vor allem EUropäischer Tech-Unternehmen zur Bekämpfung der Monopolstellung von IBM in den späten 1970er und 1980er Jahren zusammenfassen. Das verbindende Moment dieser Bewegung war die Forderung nach bzw. die Entwicklung von offenen Computernetzwerk-Standards als Mittel der Einhegung von IBM. Mit der Entwicklung des Open Systems Interconnection (OSI) Modells sollten Wettbewerbshürden abgebaut und globale offene Konnektivität für Computernetzwerke hergestellt werden. Mehrere EUropäische Regierungen wie auch die EU-Kommission unterstützten dieses Vorhaben. Zwar scheiterte der Plan am langsamen Entwicklungsprozess und der mangelnden ubiquitären Etablierung des Standards; das anvisierte Ziel der offenen Netzwerke realisierte sich aber im entstehenden Internet.

Gaia-X ist ein 2019 von deutschen und französischen Unternehmen und ihren Wirtschaftsministern initiiertes Infrastrukturierungs- und Standardisierungs-Projekt auf EU-Ebene. Mit dem Projekt soll die Abhängigkeit der EUropäischen Ökonomien von vor allem US-amerikanischen Cloudserviceanbietern verringert werden. Als zentrales Mittel zur Bekämpfung dieser Abhängigkeit dient die Entwicklung und breite Etablierung offener Datentausch- und Speicherungsstandards. Gaia-X wurde Ende 2020 von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als ein zentrales Infrastrukturprojekt für die digitale Souveränität der EU bezeichnet und kann nicht zuletzt deshalb als prototypisch für die Geopolitisierung digitaler Infrastrukturen verstanden werden.

Die Gemeinsamkeiten beider Vorhaben liegen auf der Hand: Bei beiden versuchen (1) EUropäische Unternehmen und Regierungen (2) die Abhängigkeit von Unternehmen mit Monopolstellung (3) mit dem Mittel offener Standards zu bekämpfen. In beiden Fällen wird „Offenheit“ gleichzeitig als intrinsischer europäischer Wert vertreten und als ökonomische Strategie verfolgt. Die Entstehung des OSI-Modells und Gaia-X sahen und sehen sich immer wieder Vorwürfen ausgesetzt, zu langsam und zu schwerfällig zu sein und letztlich kein probates Mittel gegen die Monopolstellung einzelner nicht-EUropäischer Unternehmen bieten zu können.

Wenn sich beide Vorhaben aber so sehr ähneln, inwiefern kann dann erst heute von einer zunehmenden Geopolitisierung digitaler Infrastrukturen gesprochen werden? Der Beitrag arbeitet vor einer historischen Folie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Vorhaben und ihrer politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen heraus und stellt zur Debatte, inwiefern die Geopolitisierung digitaler Infrastrukturen ein neues Phänomen darstellt.