Die sozial-ökologische Transformation urbaner Mobilität: Governance, Praktiken und Bewusstseinswandel (4/4)
Abstract der Sitzung
Der Verkehrssektor ist seit langem das Stiefkind der Klimaschutzpolitik. Selbst in den meisten Städten nimmt die Motorisierung der Bevölkerung weiter zu (Holz-Rau 2022). Das Leitbild der autogerechten Stadt (Reichow 1957) und die Liebe zum Automobil (Sachs 1984) sind auf den Straßen und in den Köpfen weiterhin deutlich sicht- und spürbar. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit einer Verkehrswende aber kaum noch ernsthaft bestritten (Dangschat 2022).
Tatsächlich häufen sich seit einigen Jahren Anzeichen dafür, dass jahrzehntelange Pfadabhängigkeiten urbaner Verkehrs- und Mobilitätsplanung in Frage gestellt werden. Dabei sind die multiplen Krisen unserer Zeit ein wichtiger Auslöser. Klima- und Fahrradaktivist\innen setzen Stadtpolitik etwa mit den Mitteln direkter Demokratie unter Druck und bewirken den Beschluss weitgehender Maßnahmen. Politiker\innen sowie städtische und private Akteur\*innen gehen mancherorts voran und setzen nachhaltige Stadt- und Mobilitätskonzepte um, wie beispielsweise in Paris oder Barcelona. Auch in Deutschland werden beispielsweise geschützte Fahrradspuren während der Corona-Pandemie innerhalb kürzester Zeit umgesetzt. Die Einführung des 9€-Tickets als Reaktion auf Energiekrise und steigende Inflation generiert neue Kundengruppen für Bus und Bahn. Autofreie und autoreduzierte Quartiere sind kein Nischenkonzept mehr, sondern werden in immer mehr Städten zum Planungsstandard und für die Bevölkerung zu gefragten Wohnstandorten.
Mit dieser Fachsitzung wollen wir die skizzierten sozial-ökologischen Transformationsprozesse urbaner Mobilitätssysteme genauer in den Blick nehmen. Wo verlaufen sie schnell und disruptiv, wo eher träge und langsam? Welche Konzeption einer Mobilitäts‑, Verkehrs- oder Antriebswende (Manderscheid 2020) liegt ihnen zu Grunde? Welche Bedeutung wird Anreizen zum Umstieg auf umweltfreundliche Verkehrsmittel einerseits sowie Restriktionen für den Autoverkehr andererseits beigemessen? Welche Akteur\*innen, Interessen, Strategien und Praktiken sind in Planungsprozesse involviert und welche Rolle spielen Konflikte, Kompromisse und Kooperationen bei der Implementierung von Maßnahmen? Welche Chancen aber auch Barrieren zeigen sich auf dem Weg zur individuellen sowie gesellschaftlichen Akzeptanz der Verkehrs- und Mobilitätswende?
Diesen und weiteren Fragen wollen wir in dieser vortragsbasierten Fachsitzung nachgehen. Willkommen sind Beiträge aus der Humangeographie und ihren Nachbardisziplinen, die sowohl auf qualitativen als auch auf quantitativen Methoden basieren können. Beiträge, die Governance- und Aushandlungsprozesse auf dem Weg zur Verkehrswende in den Blick nehmen sind genau so willkommen wie Arbeiten, die Bewusstseinswandel und Änderungen des Mobilitätsverhaltens oder veränderte Mobilitätspraktiken zum Schwerpunkt haben. Der Fokus liegt auf urbanen Räumen und Raumausschnitten von der Straße über das Quartier bis zur Gesamtstadt.